De

Texte

Er wollte all ihre Freundinnen kennenlernen, all ihre Männer sehen, all ihren Bekannten in die Augen schauen, wollte die Boxer umarmen und seine Kräfte mit den Ringern messen, mit den Barkeepern Messer werfen und mit den Parkwächtern würfeln. Er wollte von ihren Freundinnen erfahren, was sie ihr sagten, ehe sie mit ihnen ins Bett ging, wie sie sie überredeten, was sie ihr versprachen. Er wollte von ihren Männern erfahren, wie sie früher aussah, welche Farbe ihr Haar wirklich hatte, wie sie am Morgen wirkte, ohne all das Schwarz, was sie am Morgen sagte nach all dem, was nachts gewesen war, wie sie nach Erschöpfung und Schweigen wieder Worte fand. Er wollte mit ihren Lehrern sprechen, wollte, dass sie ihm von ihren Leistungen erzählten, von ihrem Verhalten, von ihrer Leidenschaft für Chemie und Sport, von der Farbe und dem Schnitt der Schuluniform. Er wollte mit dem Werklehrer einen trinken und sich mit dem Geschichtslehrer verständigen, wollte dem stellvertretenden Direx in die Augen schauen und die Klassenlehrerin ausgiebig küssen, wollte in ihrem Leben sein, bei ihr sein, so nah, dass er spüren konnte, wie das Blut unter ihrer Haut floss. Er wollte Anteil an all ihren Geheimnissen, all ihren Rätseln nehmen, die sie in ihrer Erinnerung barg, wollte ihre unzähligen Geschichten auswendig können, wollte ihre Fehler ausbügeln, ihre Zweifel zerstreuen, ein Teil von dem werden, was mit ihr passierte, ihr Leben für sich entdecken wie einen in einer fremden Wohnung gefundenen Koffer, wollte dasitzen und die kostbaren Zeugnisse fremder Erlebnisse, fremden Lachens und fremder Trostlosigkeit studieren. Er wollte alles in der Hand haben, zu allem eine Beziehung haben.

Sie suchten all die Kaschemmen und Spelunken auf, die ihr noch einfielen, waren natürlich bei den Arabern, schauten selbstverständlich bei den Vietnamesen vorbei, verbrüderten sich mit den Mc-Donald’s-Mitarbeitern, die daran schon gewöhnt waren, tranken mit den Angestellten der Lungenstation Bruderschaft, versuchten vergeblich in der Sauna Gesundheit Sekt zu bestellen, dachten im Keller neben der Synagoge an ihre Kindheit. Er bat die Pizzaverkäufer, seine Adresse zu notieren, erwischte Kognakschwaden bei den Georgiern, zu denen sie irgendwann zurückgekehrt waren, weil alles andere schon geschlossen hatte. Dort erst gab’s Livemusik, und er tanzte irische Volkstänze, wobei er die Kellner behinderte und sie begeisterte.

Schließlich kam er auf die teuren Koffer in den fremden Wohnungen zu sprechen, forderte, dass sie ihm sofort gebracht würden, konnte sich nicht beruhigen mit diesen Koffern, redete von ihnen mit Lachen und Verzweiflung. Er sprach und dachte so: nur nicht umsehen, nur nicht verstummen, so lange ich laufe und rede, folgt sie meinem Lachen, so lange ich etwas zu sagen habe, muss sie zuhören, sie geht bis zum Schluss mit, sie hört bis zum Schluss zu und bleibt diese Nacht bei mir. Denn sie muss doch erfahren, wie das alles endet, muss auf die Auflösung warten. Einfach weiter reden und nicht stehenbleiben.

Prinzessin, sang er am nächsten Morgen, als er in zerknitterten Jeans erwacht war und traurig an die Decke starrte, warum brichst du mir das Herz? Warum schenkst du es den Tauben auf dem Platz? Sie spielen mit ihm herum, während sie auf den Antennen sitzen, und ich weine, Prinzessin, während du in grellen Farben dein Gesicht malst. Warum hältst du mich in diesen silbernen Ketten, warum legst du mir ein schwarzes Halsband an, das mich würgt und mich hindert, all das zu sagen, was ich über Liebe und Grausamkeit denke? Wohin verschwindest du jeden Morgen, Prinzessin, in welchem Bau hältst du dich vor mir versteckt wie eine Füchsin? Warum kommst du nicht und hakst mich los, warum hältst du mich an der Kette, warum nennst du mich nie beim Namen?

Er sang vor sich hin, während draußen vorm Fenster die Straße erwachte, sang, während das Haus sich belebte, sang und machte keine Anstalten aufzustehen. Liebe kann also, konstatierte er verzweifelt, durchaus unglücklich sein. Sie kann wehtun, sie kann die Laune verderben. Wer hätte das gedacht, sann er, wer konnte das ahnen. Und die Sonne wurde immer mehr, die Stimmen klangen immer frecher, das Haus füllte sich mit ihnen, für Leiden blieb keine Zeit. Das Haus glich einer Elektroorgel. Morgens nahmen die Arbeiter das Kabel, rollten es über den feuchten kalten Asphalt und schlossen es an die blauen Stromläufe an. Die Haustür stand offen, und Luftströme schwebten wie Algen, leicht auffahrend, sobald jemand von der Straße herein kam. In der Nacht, wenn alle schliefen, konnte man bei genauem Hinhören das Tropfen von Wasser in den Küchen vernehmen, das schabentrockene Klacken der mechanischen Wecker, das schläfrige Flüstern der Tauben auf dem Dach, das leise Seufzen der Frauen im Schlaf, als hätte jemand gerade die Drähte und Antennen für ein Festkonzert gerichtet. Gegen Morgen entstand Bewegung, kamen die ersten Geräusche – Wind spielte an den Fensterbrettern und in den Räumen wie auf Blasinstrumenten, Dielen quietschten, Radiostimmen erwachten, Messer und Pfannen, Rasierer und Föhne machten sich bemerkbar, deutlich anders Toaster und Bügeleisen, sonor schallten Klingeln, süßlich verbreiteten sich die neuesten Nachrichten, Geschirr klirrte, Wasser rauschte, Küsse und Flüstern, Marschgesänge und Gebetsrhythmen, fröhliches Treppab-Laufen, was die Korridore und Balkone endgültig weckte, die jetzt klangen wie ein verstelltes Klavier, und du warst mittendrin, irgendwo mitten in den tiefsten Tönen, zwischen den eindringlichsten Noten. Und wenn die Kinder gegen Mittag ins Haus gelaufen kamen, fingen unter ihren hohen Stimmen die unsichtbaren Mikros an zu rauschen, und das Haus hallte vor Echo und Rückkopplung, die Musik dauerte an, verstummte nicht – melancholisch am Nachmittag, hitzig gegen Abend, ungestüm um Mitternacht, aber ohne leiser zu werden, ohne abzureißen, sie tönte weiter. Diese Musik verführte zum Sterben. Was er auch tat.

Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe

© Serhiy Zhadan

Schau Video

Liste der Texte | Nächster Text